„Ich bin hier nicht der Leithammel“

Moritz Ritter, Geschäftsführer bei Liquid Democracy erzählt uns in unserem nächsten Interview zu New Leadership, warum Harmoniesehnsucht beim Führen ein Problem sein kann, warum Urlaubsplanung und die Sitzordnung Marker einer guten Führungskultur sind und warum es unabdingbar ist, dass sich männliche Führungskräfte mit ihrer eigenen Unsicherheit auseinandersetzen.

Moritz Ritter leitet seit 2016 den Verein Liquid Democracy als Geschäftsführer. Liquid Democracy entwickelt digitale Tools und Prozesse, um die Demokratie inklusiver, transparenter und letztendlich lebendiger zu machen. Ziel ist es, mehr Menschen in demokratische Prozesse zu integrieren. Zu 65 Prozent finanziert sich der Verein über Zuwendungs- und Forschungsprojekte; der Rest der Finanzierung kommt über den Wirtschaftsbereich.

Name: Moritz Ritter
Organisation: Liquid Democracy
Funktion: Geschäftsführer
Da seit: 2015

Wie beschreibst du eure Führungskultur? Habt ihr ein bestimmtes System, implementiert?

Unsere Führungskultur ist sehr partizipativ. Unser Hauptsystem für Entscheidungsfindungen ist eine Art Plenum, einmal wöchentlich, wo wir Entscheidungen, die das ganze Team betreffen, zusammen fällen oder uns zuerst einmal eine Option für eine Entscheidung gemeinsam überlegen. Das ist eigentlich der wichtigere Teil: Wir entwickeln Instrumente, wie wir Projekte bearbeiten. Ansonsten haben wir viele Entscheidungsfindungsprozesse in Workshops strukturiert. Wir arbeiten in Arbeitsgruppen, die sich themenorientiert bilden, und da geben wir dann bestimmte Probleme rein, die dann dort gelöst werden beziehungsweise Lösungsvorschläge erarbeiten. Das ist die Struktur, die sich relativ organisch ergeben hat. Wir haben das nie in einem Diagramm aufgezogen und beschrieben, sondern gemerkt, das funktioniert so am besten. Es gibt extrem wenig, was ich alleine entscheide. Ich würde sagen, ich bin fast eher moderierend unterwegs, mit diesen verschiedenen Kräften, die dann die Entscheidungen letztendlich treffen oder die Vorlagen für die Entscheidungen erarbeiten.

Wie tragt ihr bei Liquid Democracy Konflikte aus?

Das ist ein wichtiges Thema für uns. Ich selbst bin sehr harmoniebedürftig und das spüre ich auch bei vielen anderen im Team. Daher würde ich sagen viele unserer Konflikte werden erst einmal nicht ausgetragen, bis sie einen bestimmten Punkt erreichen. Das ist etwas, an dem wir gearbeitet haben und es ist immer noch recht schwierig. Seit einem Jahr gehen wir das aktiv an, versuche ich das auch persönlich aktiver zu machen, in die Klärung mit Einzelpersonen reinzugehen; auch wenn es erst eine Spannung gibt, und noch gar keinen Konflikt. Das fällt mir noch schwer, muss ich gestehen. Denn alleine Spannungen anzusprechen, durchbricht die Harmonie und die ist schön.

Gerade in der Corona-Zeit ist es für mich wichtig, diese Harmonie zu spüren. Also Konflikte zu spüren, Spannungen anzusprechen, fühlt sich für mich mit Corona noch schwieriger an.

Was tust du, wenn die Arbeitsqualität eines/einer* Mitarbeitenden für dich nicht stimmt?
Wenn es um die Qualität geht, finde ich das relativ einfach, wir haben meist Feedbackschleifen, da fällt mir das einfach, erst herauszufinden, wieso die Person es anders gemacht hat, als ich es erwartet habe und dann um Anpassung zu bitten. Wenn es um so etwas geht wie zum Beispiel Pünktlichkeit bei Meetings oder so etwas, da gibt bei uns so eine Kultur, dass man in der großen Runde mal einen Witz darüber macht. Der Grund für Spannungen ist öfter eine unterschiedliche Auffassung oder Einschätzung von Entscheidungen, Ablauf von Dingen oder Ausrichtung von einem Projekt. Wenn ich dann eine Blockade spüre, wird es für mich relevant, denn wenn wir da keinen guten Kompromiss finden, können wir da nicht gut weitermachen.

Was glaubst du ist ausschlaggebend, damit dir dein Team gut folgen kann?

Definitiv, dass die Grundlagen für die Entscheidungen transparent sind. Wenn ich also eine Entscheidung treffe und ich bringe sie nicht in dieses Plenum und die betrifft sehr viele Menschen, dann hätte das als Konsequenz, dass ihr weniger Menschen folgen. Das finde ich auch legitim. Und das zweite ist, glaube ich, dass ich meine eigene Unsicherheit zeige. Dass ich zugebe, selbst nicht zu wissen, was hier der richtige Weg ist und um Hilfe bitte, die richtige Lösung zu finden. Und damit eben auch eine Schwäche zu zeigen und klarzumachen, ich bin hier nicht der Leithammel, der euch sagt, wo es langgeht.

Das fand ich früher schwierig bei uns und da hat sich viel verändert. Heute habe ich das Gefühl, das einfach sagen zu können und es wird positiv aufgenommen. Dann kommen von allen Seiten Ideen und es ist dann eine große Akzeptanz da für die Lösung. Das sind fast die besten Entscheidungen, wenn ich selbst nicht genau weiß was es braucht. Es ist wahnsinnig entlastend in meiner Rolle nicht ständig stark sein zu müssen. So muss ich niemandem vorgaukeln zu wissen, wo es langgeht. Ich kann einfach offen sagen, wenn ich unsicher bin, das ist für alle schön.

Was machst du wenn du beim Führen deine Gelassenheit verlierst?
Es gibt gute und schlechte Tage, (lacht).
An einem guten Tag, wenn ich meine Gelassenheit verliere, wenn mir etwas entgleitet, dann werde ich erst mal ruhig und versuche herauszufinden, was genau mir gerade passiert. Wenn das direkt in einem Meeting passiert, schalte ich in einen Meta-Modus und versuche zu sagen, „Ok, ich habe das Gefühl, hier gibt es diese und diese Seiten“, und versuche die einzuordnen und auch meine eigene Position darin einzuordnen.

Und merke zum Beispiel, ich bin jetzt gerade richtig ärgerlich aber das nützt jetzt nichts, das rauszuhauen. Die*der andere ist ja auch verärgert und irgendwie müssen wir da jetzt raus.

Was passiert an einem schlechten Tag?

Ein schlechter Tag ist, wenn ich meinen Ärger zeige, ohne ihn zu markieren. Dann werte ich vielleicht Dinge ab, direkt in einem Meeting. Ich werde dann in meinen Äußerungen unkonstruktiv. Aber es ist tatsächlich so, dass durch das Instrument der Ärgershow, das wir ja bei euch kennengelernt haben, es eher selten geworden ist. Ich weiß jetzt, ich kann das auch woanders machen, meinen Ärger bearbeiten. Da gibt es bei uns explizit die Möglichkeit zu jemandem zu gehen und um ein Ohr zu bitten.

Und wie gewinnst du deine Gelassenheit wieder? 

Absolut nötig ist für mich, mich körperlich zu bewegen. Mir Raum nehmen, den Ärger für mich rauslassen. Und dann tatsächlich jemanden zu bitten, meine Ärgershow zu hören und mich zu hören.

Welchen Ratschlag gibst du einer Person mit auf den Weg, die flache Hierarchien in ihrem Unternehmen aufbauen möchte oder anfangen möchte, mit integrativer Entscheidungsfindung zu arbeiten?

Ich würde ihr raten, zuallererst eine Gruppe zu bilden, die sich anguckt, was heißt das denn für uns, flache Hierarchien? Was sind die bestehenden Bedürfnisse hinter und Ziele dieser Veränderung? Da es ein langer Prozess ist, macht es Sinn, den konkreten Anlass, den es oft gibt, zu nehmen und es daran auszuprobieren.

Das habe ich bei uns gemerkt. Bei uns waren es zwei Dinge, die klingen klein, aber die sind einfach immer schief gegangen: Urlaubsplanung und die Sitzordnung im Großraumbüro verändern. 
Da brachen Konflikte auf, das hätte ich niemals für möglich gehalten und Temperamente kochten hoch, die ich nie zuvor gesehen hatte. Bei uns war vor allem die Urlaubsplanung das ausschlaggebende Moment. Davor hatte ich Urlaube als Geschäftsführer abgenickt und das hat zu Verstimmung geführt. Das bestehende System zu verändern, mit wirklich flachen Hierarchien, das hat großes Vertrauen geschaffen, dass wir auch noch ganz andere Sachen schaffen. 
Und eine gute Sitzordnung hinzubekommen, bei der alle involviert sind, das ist für mich eine Auszeichnung für die Kultur eines Unternehmens. Ich frage da oft in meinem Bekanntenkreis nach und habe festgestellt, es gibt kaum Unternehmen, wo das nicht Top-down entschieden wird und es führt immer zu Missgunst.

Was hat dich zu der Führungsperson gemacht, die du bist. Hattest du bestimmte Vorbilder?

Das Buch von Frederic Laloux, Reinventing Organizations hat mich sehr inspiriert. Das waren Visionen, wo ich dachte, ja, das kann funktionieren.

Bevor ich zu Liquid kam, war ich selbst Angestellter in einer Agentur und da habe ich auf jeden Fall sehr viel negative Erfahrungen gemacht. Da war viel Konflikt und wenig Verbindung und Reflexion bei der Geschäftsführung. Und ich habe mir damals vorgenommen, wenn ich jemals in eine Leitungsfunktion komme, es ganz anders zu machen. Dann bin ich zu Liquid Democracy gekommen und es gab sehr viele Konflikte. Und ich bin genau in die gleiche Rolle gerutscht, habe klassische Top-down-Entscheidungen getroffen. Wir waren zwei Geschäftsführer und das war erst Mal ein richtiger Schock für mich, zu merken, ich bin ja genau so. Wir hatten eine super Beraterin, die uns Geschäftsführer gecoacht hat und die ein Auge hatte für Konflikte und uns motiviert hat, in Konflikte reinzugehen und sich die wirklich anzuschauen. Sie war ein Vorbild für mich.

Was ist für dich die größte Herausforderung beim Führen?

Mit den eigenen Unsicherheiten umgehen. Das kann der Faktor sein, warum ich etwas konstruktiv löse oder nicht. Die Unsicherheiten, die ich reflektiert habe und die ich angenommen habe, mit denen kann ich gut umgehen und wenn es existentielle Sachen betrifft, die ich nicht gut reflektiert habe, geht das nicht. Das macht so einen Unterschied. Manchmal treffen mich Sachen unerwartet und dann werde ich unsicher und dann wird es destruktiver.

Wie gehst du mit diesen Herausforderungen um?
Wir nutzen sowohl Supervision als auch Mediation, das ist sehr wichtig für uns. Gerade wenn es ein Thema betrifft, das noch relativ abstrakt ist und das ganze Team involviert ist, finde ich externe Hilfe hilfreich. Für kleinere Dinge ist mein Freundeskreis für mich sehr wichtig, mit Freund*innen zu diskutieren und zu reflektieren und zu spiegeln, was da los ist. Und dann eben auch intern das Instrument der Ärgershow implementiert zu haben, wo man sich Kolleg*innen anvertrauen kann. Und mit dem Vereins-Vorstand habe ich immer einen Sparring-Partner.

Welche Probleme und Fragen begegnen dir zum Thema Führen?

Ungelöst ist die Frage, was ist, wenn wir so groß werden, dass wir nicht mehr alle um einen Tisch herum passen? Jetzt sind wir 16 und werden nächstes Jahr vielleicht auch noch ein paar mehr. Als ich bei Liquid anfing, waren wir 25 und hatten mehrere Teams die aufgeteilt waren und da mache ich mir große Gedanken und weiß auch noch nicht, wie das klappt. Jetzt entscheiden wir in einem Raum zusammen einmal die Woche Sachen und das wird dann nicht mehr gehen. Das ist eine große Herausforderung für mich.

Und was ich noch nicht so gut strukturiert habe, ist, wie man neue Menschen gut in diese Kultur reinbringt. Bislang hatten wir das Glück, Menschen anzuziehen, die sehr offen sind dafür. Wenn es gut läuft, wird es als selbstverständlich hingenommen, wenn es schief läuft, läuft es richtig schief.

Was funktioniert richtig gut bei dir beim Führen?

Bei Entscheidungen, bei denen ich unsicher bin, Leute mitzunehmen, darüber offen zu sein. Tatsächlich diese Entscheidung über unsere Strategie, unsere Ausrichtung als Verein. Dass wir da alle mitgenommen haben in den letzten zwei Jahren und alle an einem Strang ziehen und mit Motivation an diesen Dingen arbeiten, das finde ich wunderbar. Unsere Verbundenheit, die ist jetzt ganz anders. Ich glaube auch nicht, dass ich ohne diese Verbundenheit noch arbeiten könnte. Früher waren unsere Weihnachtsfeiern so awkward, man steht in der Ecke und unterhält sich nur mit denen, mit denen man normalerweise redet und jetzt sind Weihnachtsfeiern einfach zusammen feiern und genießen, dass man mal außerhalb des Arbeitskontextes zusammen kommt. Das ist richtig schön. Das macht für mich meine ganze Arbeit ganz, ganz anders. Das klingt so klischeehaft aber es fühlt sich dann manchmal gar nicht so richtig an wie Arbeit. Und gerade auch während Corona, hat mich das wirklich motiviert. Während des ersten Lockdowns hatte ich mit meinen Arbeitskolleg*innen tatsächlich mehr Kontakt als mit allen anderen Menschen und da zu wissen, das sind Menschen die mich motivieren und die Lust auf unsere gemeinsam gesetzten Ziele haben, das war richtig cool. Das feiere ich sehr.

Wo siehst du denn aktuell die größten Herausforderungen wenn es um New Work und flache Hierarchien geht im Bezug auf Führung?

Die meisten, die durch diese Hierarchieebenen gelaufen sind, um da oben anzukommen, haben gar nicht selbst erlebt was das eigentlich mit dir macht, wenn du eine neue, partizipative Arbeitskultur hast. Die haben diese Dinge zum einen nicht selbst erlebt und sie würden sie sich selbst aber auch nicht gönnen. Und das empfinde ich als echt schwierig, wenn man 20 Jahre in dieser alten Kultur gearbeitet hat, sich dann auch wirklich mal zu gönnen, zu sagen ich bin jetzt hier und ich bin jetzt einfach mal unsicher. Oder traurig, obwohl ich eigentlich in meiner Rolle ja der Cheerleader sein soll oder die starke Führungsperson.

Das fand ich bei Laloux sehr wichtig, und auch ein bisschen traurig: Da kann noch so viel Bottom-up sein, wenn das von oben nicht wirklich gewünscht ist, dann passiert es nicht. Das ist die Herausforderung, wie kriegt man diese Leute, die relativ abgekoppelt sind in großen Organisationen, wie kommen die dahin, einen solchen Kulturwandel erstmal in sich selbst zu vollziehen?

Das zweite ist das, es sehr schwierig ist zu quantifizieren, was die Vorteile von partizipativer Arbeitskultur sind. Denn viel von dieser Kultur hat erst mal ganz viele Nachteile. Unser Ziel war nicht in erster Linie Wachstum und Umsatzsteigerung, sondern dass es nachhaltig ist. Und das macht es bei vielen Organisationen, die sehr quantifiziert arbeiten, extrem schwierig, das einzubauen und in ihrer Kultur dafür überhaupt einen Raum zu schaffen. Denn das braucht es, Raum.

Was ist mit Effektivität?

Da ist unsere Unternehmensform, also der Verein, total wichtig. Unser Ziel ist eben nicht Profitmaximierung, da haben wir durchaus einen Vorteil. Und jede Organisationsform, die Profitmaximierung als Form hat, wird da dann auf jeden Fall eher Widerstände haben. Am Ende bin ich davon überzeugt, dass dadurch, das unsere Zusammenarbeit eine andere Nachhaltigkeit hat, es einen Effizienzgewinn gibt. Aber am Ende muss man eben auch sagen, wir sind nicht auf Gewinn aus. Als Verein muss ich bei Null rauskommen, das reicht und das erlaubt uns eben, unser Ziel zu verfolgen. Wir wollen die Demokratie verändern, das dauert ewig und dafür muss ich mich nachhaltig aufstellen.

Und trotzdem hast du durch eine andere Arbeitskultur ja schon auch weniger Probleme, weniger Fluktuation und weniger Burn-out, also weniger Wissensverluste. Durch mehr Motivation hast du mehr Effektivität in der Arbeit. Einiges davon kann man bestimmt quantifizieren aber bestimmt nicht alles. Für mich müssen einfach auch gewisse Werte stimmen, sonst habe ich keine Lust 32 bis 40 Stunden hier zu sein. Und viele haben eben darauf auch keine Lust mehr, auf den ganzen Druck, wenn es sich woanders besser anfühlt. 


Davon profitieren wir tatsächlich auch. Wir arbeiten im Bereich Technik und konkurrieren mit Start-ups um Mitarbeiter*innen, gerade Entwickler*innen und wir können denen nicht den Lohn zahlen, den ein Start-up zahlt. Aber ich kann ganz klar versprechen, wir haben zwar keinen Kicker und Yoga, aber wir haben eine super Kultur, wir achten auf deine Ressourcen, wir begrüßen dich hier als Mensch und schätzen deinen Input wert. Und das macht was. Aber für eine große Veränderung braucht es noch ein großes Umdenken.

Liegt dir noch was am Herzen, was du zum Thema Führung zu sagen hast?

Ich glaube es ist auch eine Aufgabe für Männer, es ist eine Genderaufgabe. Da sehe ich gerade weiße Männer, wie mich, in der Verantwortung, sich damit zu beschäftigen und mehr Unsicherheit zuzulassen, anders wird sich das nicht ändern. Weil eben immer noch viel mehr Männer als Frauen in Führungspositionen sind, leider. Und das ist ein Aufruf an alle Männer, wie ich es bin, sich mit den eigenen Unsicherheiten auseinanderzusetzen.