„WENN DU ZU VIELE REGELN MACHST, IGNORIEREN DIE AM ENDE ALLE“

In unserem dritten Interview erzählt soulbottles-Gründer Paul Kupfer, warum ihn seine Judo-Trainer am meisten geprägt haben, wann ein Strategiegespräch eine „Unstrategie“ hervorbringt und warum Führung weder gut noch schlecht ist, es aber gute und schlechte Arten zu Führen gibt.

Paul hat 2012 soulbottles mitgegründet, ein Berliner Unternehmen, das plastikfreie Trinkflaschen aus Glas und Edelstahl herstellt. soulbottles spendet für jede verkaufte Flasche einen Euro für Trinkwasserprojekte. Er hat Ende 2020 Suits for Good  gegründet, um faire, nachhaltig produzierte und bequeme Hosen, Jacketts und Anzüge auf den Markt zu bringen.

Name: Paul Kupfer
Organisation: soulbottles
Funktion: Gründer
Da seit: 2012

Wie würdest du eure Führungskultur beschreiben? Arbeitet ihr mit einem bestimmten System?
Aktuell arbeiten wir mit Holacracy. Wenn mich Leute fragen, was bei uns zum Thema Führung passiert, dann sage ich meistens, dass der Großteil der Führung eigentlich in Selbstführung passiert, vor allem im operativen Geschäft. Dann haben wir noch Elemente von kollektiver Führung, wo wir sagen, an größeren strategischen Themen arbeiten wir dann auch mit einer gewissen Konsens- und Gruppenführung. Dann gibt es auch noch Elemente von Einzelführung bezogen auf die Teamzusammenstellungen, zum Beispiel bei der Frage, ob Mitarbeitende in der Probezeit fest ins Team kommen oder nicht. Nach der Probezeit ist das dann aber wieder eine kollektive Entscheidung.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Führung durch Persönlichkeit. Menschen folgen manchen Menschen in bestimmten Situationen mehr als anderen.

Wie gehst du mit deiner besonderen Rolle als Gründer um?
Auf mich schauen die Leute teilweise anders, wenn ich Ideen und Vorschläge reinbringe. Ich finde einen ehrlichen Umgang damit wichtig, aber ich finde das nicht per se gut oder schlecht. Also manchmal gibt es schon die Situation, dass ich eine Idee habe, die eigentlich nicht in meinem Verantwortungsbereich liegt. Dann merke ich, dass ich kein klassischer Chef bin und jetzt nicht einfach sagen kann „Hey macht mal!” Aber ich kann trotzdem mit Begeisterung meine Idee einbringen und hoffen, dass ich die anderen damit anstecke.

Und wie ist es, wenn das Team dann sagt, „Danke, aber das ist jetzt gar nicht so eine gute Idee für uns“?
Das ist schwierig. Da muss man halt drauf schauen: Nehme ich da gerade was persönlich? Reden wir noch sachlich? Ich versuche immer sachlich zu bleiben oder mir dann entsprechend Empathie zu holen, wenn das nicht klappt und dann finde ich diesen Prozess sehr fruchtbar. Da braucht man dann halt ein bisschen Training, damit das Spaß macht.

Was glaubst du, was sind deine zentralen Kompetenzen, die dafür sorgen, dass dir Mitarbeitende gut folgen können?
Ich finde es immer schwierig allgemein zu sagen „was braucht man denn zum Führen?“, weil es eben immer auch darauf ankommt, was du gerade führen willst. In manchen Situationen braucht es etwas sehr Regelhaftes, etwas, das Strukturen aufbaut, und bei anderen etwas, das vielleicht mehr Kreativität freisetzt. Begeisterung wird oft gebraucht zum Führen bei soulbottles. Und Möglichkeiten sehen. 
Ich glaube, was du immer braucht, ist ein ehrliches Interesse daran, was andere Leute darüber denken. Das wirklich zu hören, das ernst zu nehmen, das nicht persönlich zu nehmen – auch wenn das wirklich schwierig ist.

Was sind denn Momente in denen du beim Führen die Gelassenheit verlierst?
Oh, es gibt so viele. Nein – es gibt einerseits viele und gleichzeitig habe ich inzwischen einen besseren Umgang damit, das heißt, die Zustände bleiben nicht mehr so lange. Einmal ist so ein Ding, wenn ich etwas als Undankbarkeit interpretiere. Also ich mache zum Beispiel ein Vorschlag, den ich toll finde und natürlich sehe ich auch Herausforderungen. Und dann bekomme ich Feedback nur zu diesem letzteren Teil. Alle sind nur so am draufhauen. Das regt mich dann teilweise tierisch auf, ich finde das so pessimistisch und wenig wertschätzend der Idee gegenüber.

Und wie gewinnst du deine Gelassenheit wieder?
Da muss ich dann schauen, was ich gerade brauche und auch ob das gerade wirklich die Realität ist und woran es liegt. Ich brauche dann manchmal ein Ventil, eine Ärgershow oder so. Ich muss mich dann abreagieren und schimpfen und dann selbst reinspüren, was ist das denn gerade, was da in mir losgeht. Da kommen dann meine Glaubenssätze. Was mir dann hilft ist, nicht elektronisch zu antworten, oder per Slack oder so, auch wenn es schon eine öffentliche Debatte dazu gibt, sondern den direkten Kontakt zu suchen. Und mich dann auch zu zeigen, mit dem, was mir wichtig ist.

Wenn dir jetzt jemand gegenüber säße, der oder die anfängt ein Unternehmen / eine Organisation aufzubauen, die mit flachen Hierarchien oder integrativer Entscheidungsfindung arbeitet, was für Ratschläge würdest du der Person mitgeben?
Also ich glaube, sich regelmäßig mit den eigenen Themen / Triggern / Glaubenssätzen zu beschäftigen – am besten in einer Gruppe – das ist auf jeden Fall ratsam, denn die werden auf jeden Fall kommen. Auf jeden Fall als Gründer, aber am besten auch für das ganze Team.
Rollenklarheit innerhalb von flachen Hierarchien kann man zum Beispiel auch darüber schaffen, dass man – anstatt gleich ein komplexes System wie Holacracy einzuführen – sich mal zwei Stunden Zeit nimmt und fragt: Was siehst du denn gerade als deine Rollen? Schreib das doch mal auf. Wenn das jede/r für sich aufgeschrieben hat, gehen die Zettel weiter im Kreis. Alle anderen schreiben auch auf, was sie denken, was deine Rollen sind. Und dann gucken wir mal drauf, gemeinsam. Das kann viel helfen, wenn man diese flachen Hierarchien aufbauen möchte. Hier müssen alle gegenseitig ihre Erwartungen formulieren, und miteinander abstimmen, weil wir sind halt alle Chef*in und das müssen wir als Team machen. Konflikte entstehen ja oft, weil wir Unterschiedliches voreinander erwarten, das aber nicht in Kontakt bringen.

Und: Es hat einen enormen Effekt, wie du Sachen nennst, also achte auf deine Sprache.

Und: Wenn du Strukturen schaffst, auch wenn du sie selbst gar nicht als so fix betrachtest, erscheinen sie vor allem für Menschen, die neu dazukommen, oft als gegeben und werden vielleicht fester als dir lieb ist. Das sehe ich manchmal, dass bestimmte Regeln, die ich irgendwann mal spontan aufgeschrieben habe, immer noch eine Relevanz haben, obwohl sie gar nicht mehr wichtig sind. Also: Guckt euch Regeln immer mal wieder bewusst an und schafft sie gegebenenfalls bewusst wieder ab, wenn sie nicht mehr passen!

Was oder wer hat deinen Bezug zum Thema Führen besonders geprägt?
Ich habe mit zehn Jahren angefangen Judo zu machen und dann mit 15 war ich der jüngste Co-Trainer im Verein und wurde dann selbst Trainer. Da gab es zwei Trainer. Der eine hat viel mit verhaltensauffälligen Kindern gearbeitet. Der hat mich so gut verstanden, hat mich gut geführt, und war empathisch, witzig und klar. Der andere Trainer war der Wettkampftrainer, der war ein bisschen härter. Der war streng, aber auch cool und der hatte diese Gruppe – Testosteron geladene Teenager – im Griff.  Also die beiden zusammen waren echt ein Geschenk, das habe ich erst im Nachhinein bemerkt, als ich noch andere Trainer hatte. In Kontakt mit zwei ganz unterschiedlichen Führungsstilen zu kommen, die mir beide total gut getan haben und die enorme Leistungen bei uns herausgekitzelt haben. Das hat mich mega geprägt.

Welche Probleme und Fragen sind dir denn zum Thema Führen begegnet und wie bist du sie angegangen?
Ich habe vor allem Fragen gestellt bezüglich der Themen Vision und Strategie innerhalb von Organisationen mit flachen Hierarchien. Die Antworten dazu hab ich selbst noch nicht klar.

Zum Beispiel, als wir soulbottles gegründet haben, war für mich und Georg klar, damit können wir mal anfangen, aber eigentlich wollen wir die Welt retten. Wir mussten dann einsehen, dass man sich am Anfang auf etwas konzentrieren muss – bei uns jetzt Trinkflaschen und plastikfrei. Das ist ja auch schon mal genug, aber das entspricht noch nicht meiner Vision. Und: Da bin ich mir dann manchmal nicht so sicher, wie viele Menschen ich in die Visionsprozesse integrieren möchte. Ich habe schon Visionsprozesse bei soulbottles gehabt, die ich eher unbefriedigend fand, dann kam nicht wirklich was Inspirierendes raus, sondern eher so eine Art Kompromisslösung so in die Richtung: Das ist jetzt ok, da können wir alle mitgehen, aber so richtig ziehen tut es nicht.

Auf der Strategieebene gibt es eine ähnliche Frage: Wir haben schon teilweise Probleme uns klar zu fokussieren und zu entscheiden, was uns denn jetzt eigentlich gerade wichtiger als anderes ist. In so einem Strategiegespräch sind alle Abteilungen repräsentiert und alle wollen ihr Ding mit reinbringen und dann hast du am Ende so eine „Unstrategie“. Dann machen wir halt irgendwie alles. Und auch da weiß ich noch nicht, wie viele Menschen ich bei diesen Prozessen dabei haben will und wie der Prozess dann wird. Das ist so ein Thema, an dem ich noch arbeite. Also wie viele Menschen entscheiden am Ende, was die Vision und die Strategie sind und was der Effekt davon ist?

Was würdest du sagen, funktioniert bei dir richtig gut beim Führen? Was fällt dir leicht?
Ich habe 2019 an einem Konzept, einem Incubator (junge Startups zu fördern, die was gegen Plastikmüll erfinden wollen), geschrieben. Da habe ich früh angefangen, schon in der Konzeption Feedback einzuholen. Dadurch waren viele im Boot, als das Projekt gelauncht wurde. Das Konzept war geschrieben und ausbuchstabiert, diese Leute wurden eingestellt mit klaren Ansagen, was wir suchen und das war dann leichter, die Leute zu unterstützen. Dadurch, dass für mich der Rahmen und die Erwartungen so klar waren, konnte ich es gut abgeben. Das hat mir mega Spaß gemacht. Da hatte ich den Eindruck, das geht cool zusammen. Die Mitarbeitenden fühlen sich nicht gemikromanaged, sondern sie haben gesehen: Die Aufgaben und Ziele sind ganz klar formuliert und auf der Basis kann ich voll viel selber machen. Das klappt sehr gut, wenn am Anfang die Erwartungen klar sind.

Wo siehst du denn aktuell die größten Herausforderungen, wenn es um New Work und flache Hierarchien geht im Bezug auf Führung?
Eine Sache sind die Worte selbst, also Führung und Leadership. In Deutschland haben sie ja schon historisch eine super negative Konnotation. Oft gibt es gerade bei linken Projekten, Hausprojekten beispielsweise, eine richtige Aversion gegen Führung. Wir machen hier beim Onboarding immer so einen 1,5-Stunden-Slot zum Thema Führung. Das ist dann auch immer mit einer Reflexion verbunden um auch darauf zu kommen: Führung ist weder gut noch schlecht. Führung ist einfach Arbeit, die passiert, und die kann man gut oder schlecht machen. Und die kann Spaß machen und die kann keinen Spaß machen. Alle haben doch immer ein Beispiel von guten Erfahrungen mit Chef*innen und schlechte. Also es gibt gute Arten zu führen und schlechte.

Das nächste ist: Teamzusammenstellung, vor allem wenn es um Trennungen geht. Wer entscheidet das? Die Gruppe? Das ist wirklich ein schwieriger Prozess und da habe ich noch keinen guten Prozess. Das sehe ich auch teilweise bei Hausprojekten, wenn Leute gar nicht mehr reinpassen, aber es auch keinen guten Prozess gibt, wie man sich jetzt verabschiedet. Dann hält man es immer so lange aus, bis es kracht. Oder die, die nicht mehr passen, bleiben und alle anderen gehen.

Und: Eine gesunde Menge von Strukturen, Prozessen und Regeln. Auch da herrscht teilweise eine Aversion, die ich auch verstehen kann, vor allem wenn es um Kreativität geht. Gleichzeitig, manchmal willst und brauchst du ja Regeln und willst dich drauf verlassen das sie eingehalten werden, zum Beispiel beim TÜV oder wenn Leute ein Flugzeug überprüfen.

Aber man kann es natürlich auch da übertreiben und zu viele Strukturen aufbauen und die Sicherheit daraus ziehen. Wenn du zu wenig Strukturen hast, passiert es dir vielleicht, dass irgendwelche Ego-Trips durchgehen. Wenn du zu viele Regeln machst, dann ignorieren die am Ende alle oder versuchen die Regeln zu umgehen und das bestimmt dann das Handeln. Also da wirklich den Sweet Spot zu finden: Wie viele Strukturen brauchen wir? Das ist herausfordernd.