“Wut ist ein tolles Gefühl”

Mit Micha Bohmeyer eröffnen wir unsere Interviewreihe zu New Work. In ihr haben wir für euch aufgeschrieben, was für erfolgreiche Führungskräfte der “neuen Generation” Erfolg und gute Führung eigentlich bedeuten, wann sie beim Führen ihre Gelassenheit verlieren und welche Tipps sie Teams geben, die effektiv mit flachen Hierarchien und integrativer Entscheidungsfindung arbeiten möchten.

Micha hat 2014 den Verein Mein Grundeinkommen, gegründet. Bislang hat der Verein über 1,8 Millionen Euro an Spenden eingesammelt und 669 Menschen ein Jahr lang ein monatliches Grundeinkommen von 1 000 Euro geschenkt. Ohne Bedingung. Michas Buch zum Verein mit dem Titel „Was würdest du tun?“ wurde ein Bestseller.

Name:              Michael Bohmeyer
Organisation:   Mein Grundeinkommen e. V.
Position:          Gründer
Da seit:            2014

 

Wie beschreibst du die Führungskultur bei Mein Grundeinkommen? Habt ihr ein bestimmtes System implementiert?
Holacracy heißt unser System. Es ist ein hierarchisches System, aber eins ohne Weisungsbefugnis. Rollenautonomie ist ganz wichtig. Die Grundidee ist spannungsbasiertes Arbeiten. Das zwingt zur Eigenverantwortung, weil man diese Spannungen regelmäßig auf den Tisch bringt und daraus allein oder mit der Gruppe einen Veränderungsvorschlag entwickelt. Gibt es kein Veto, gilt dieser Vorschlag. Das heißt jeder muss eigene Spannungen im Unternehmen lösen und so seine Situation verbessern. Wer das nicht tut, kann bei uns nicht bestehen.
Das heißt du kommst aus dieser Meckerkultur raus und aus einer gelernten Hilflosigkeit, rein in eine Selbstwirksamkeit. Das ist ein wahnsinnig zäher Prozess. Die Hoffnung ist, dass so alle zu Mitunternehmerinnen werden.

Konflikte sind also wesentlicher Bestandteil der Arbeit?
Ja! Konflikte sind das Beste. Die größte Ressource in Holacracy sind Konflikte. Mit Absicht heißen sie dort Spannungen. Das liegt ja an unserer Erziehung, dass Konflikte moralisch aufgeladen sind und als etwas schlechtes gelten. Konflikte gibt es dann, wenn die Erwartung nicht mit der Realität übereinstimmt. Man kann immer wieder die Erwartung senken, aber dann wird man frustriert und kündigt innerlich oder man verändert eben die Realität. Die Erfahrung zeigt, dass es uns viel besser geht, wenn wir die Realität verändern und nicht zuletzt sind wir ja angetreten mit unserer Organisation, um die Realität für alle zu verändern und da müssen wir natürlich bei uns anfangen können.

 

Wie tragt ihr Konflikte aus?
Wir haben klare Formate wo wir Spannungen regelmäßig ansprechen. Da heißt es: Eigenverantwortung or out. Und das ist geil. Die Meetings werden immer effizienter und kürzer, weil wir immer schneller zum Kern der Spannungen vordringen. Und dann gibt es gleichzeitig eine wertschätzende Kultur, die einen Konflikt nicht als Angriff versteht, die dafür sorgt, dass Leute dir helfen, deine Spannung raus zu schälen und auch deinen Vorschlag nochmal zu verbessern.

Was für eine Rolle spielen Wertschätzung und Ehrlichkeit in eurem Arbeitsalltag?
Wertschätzung und Ehrlichkeit sind die Voraussetzungen für alles. Wir haben lange nur auf Wertschätzung gesetzt, weil wir dachten, das ist das Mittel um diese hässliche Arbeitskultur, die es da draußen gibt, zu überwinden. Dann haben wir so eine Art Kuschelkultur entwickelt. Um festzustellen, dass wir darin oft gestresster sind, als wenn es einen Chef gäbe, der eine Ansage macht.

Und irgendwann haben wir gemerkt, dass wir alle nicht ganz ehrlich sind. Wenn es keine Klarheit gibt, gibt es keine Ehrlichkeit, wenn es keine Ehrlichkeit gibt, wirkt Wertschätzung nicht, dann entsteht kein Vertrauen und dann geht alles kaputt. Das heißt, man muss mit der Klarheit anfangen. Mit Klarheit kann ich mich selbst führen und wenn ich mich selbst führen kann, kann ich andere führen. Das lernen wir als Team. Wir lernen es schnell, aber es ist trotzdem zäh.

 

Was glaubst du, ist zentral, damit deine Mitarbeitenden dir gut folgen können?
Wieder: Ehrlichkeit. Also das, was ist, in den Kontakt zu bringen. Ich weiß oft Dinge nicht oder bin unsicher bei Dingen. Und dann sage ich es halt, anstatt Chef zu spielen. Ich brauche also, um ehrlich zu sein, eigene Klarheit und dafür brauche ich Ressourcen. Da muss ich im Zweifel mal Urlaub machen. Wenn ich keine Ressourcen mehr habe, dann werde ich ungeduldig, kann meine Erwartungen nicht formulieren, weil ich sie selbst nicht kenne, und dann schwimmen die anderen.

 

Wann verlierst du beim Führen deine Gelassenheit?
Wenn ich selber eine zu konkrete Vorstellung davon habe, wie das Endprodukt aussehen soll. Wenn ich schon zu lange darüber nachgedacht habe, es aber nicht selber gemacht habe und nur will, dass andere das für mich erfüllen und nicht mehr loslassen kann; Dann verliere ich die Geduld und dann bin ich in meinem Stolz getroffen, wenn meine geniale Idee nicht umgesetzt wird und die anderen es nicht verstehen.
Neulich gab es Corona bedingt eine Situation von „Wir brauchen jetzt sofort ein Grundeinkommen, wir fordern das jetzt!“ Aber etwas so zu fordern - anstatt einzuladen, vorzuleben und zu experimentieren - das ist überhaupt nicht unsere gewaltfreie Haltung und entspricht nicht unseren Werten. Ich weiß ja gar nicht, ob ein Grundeinkommen besser ist. Trotzdem habe mich dann hinreißen lassen. Ich finde das war auch ein Führungsverlust, weil ich die Haltung nicht aufrechterhalten habe. Ich habe meine Werte in diesem Moment der Krise nicht hochgehalten, sondern bin einem kurzfristigen, egoistischem Impuls gefolgt. .

 

Was hilft dir dann dabei, deine Gelassenheit wiederzufinden?
Wochenende. Ausschlafen. Sport. Handy weg. Im Zweifelsfall irgendwas tun, um die Gefühle zu triggern. Ich merke einfach, wenn es Gefühlsstau gibt, dann muss das mal raus, die Wut, die Trauer, die Angst.
Ich glaube es geht eigentlich immer nur um Ressourcen. Urlaub machen wenn es knapp wird, ein Netzwerk von lieben Menschen um mich herum, die mir dabei helfen, auf meine Ressourcen zu achten. Auch das haben wir bei uns institutionalisiert. Wir haben ein Companion-System, das heißt ich habe drei fantastische Companions bestimmt, die mich fachlich, freundschaftlich und kritisch gut verstehen. Die spüren genau, wann ich drüber bin und dann schicken sie mich nach Hause. Das ist das einzige was hilft.

 

Welchen Ratschlag würdest du einem Team geben, das gerne mit flachen Hierarchien und integrativer Entscheidungsfindung arbeiten möchte?
Oft ist, glaube ich, New Work eine Vermeidung von Konflikt, weil man will, dass es kuschelig ist und nicht so anstrengend und ich würde aber sagen, das ist dann sogar noch viel anstrengender. Zusätzlich, dass Arbeit schon schwer ist, ist Arbeit mit New Work noch schwerer, weil man zur eigentlichen Arbeit auch noch die innere Arbeit machen muss, weil man die wegfallende Struktur im Außen im Inneren ersetzen muss. Also, man öffnet damit ein bisschen die Box der Pandora. Man legt damit Dinge frei, die sonst so im Kapitalismus nicht verhandelt werden. Eigenverantwortung, sich mit sich selbst auseinandersetzen. Dafür muss man den Rahmen haben und die Ressourcen. Wenn man jetzt so was macht und die Büchse öffnet und die Leute haben gar nicht die Arbeitszeit und die Sicherheit um das auszuleben, dann schürt man noch mehr Angst und kapitalisiert auf eine Art die tiefsten Gefühle. Die Fallhöhe ist dann groß, wenn die Leute gekündigt werden, dann haben sie das Gefühl, sie werden gekündigt, weil sie falsch sind.

Und trotzdem glaube ich lohnt sich das total, das zu machen. Also für uns hat es sich gelohnt. Es ist natürlich immer die Frage: was will man erreichen. Und da wir ja nun eine fundamentale Systemveränderung anstreben, müssen wir uns auch intern fundamental anders verhalten. Und unser Ziel ist es, die heutigen Verhältnisse in der Leistungsgesellschaft, ich sag mal out zu competen, also besser zu sein.

Durch Sachen wie 4-Tage-Woche, Gewaltfreie Kommunikation, Holacracy sind wir kurzfristig ineffizienter, weil wir uns mehr mit uns selbst beschäftigen müssen, weil die ganzen Sachen, die aus dieser Pandora-Kiste herauskamen natürlich jetzt erst mal verarbeitet werden müssen. Aber langfristig würde ich das nur machen, um effizienter zu werden.

 

Was waren Schlüsselerlebnisse, die deinen Bezug zum Thema Führen geprägt haben?
Erstmal natürlich die Negativerfahrungen: Wenn ich nicht gut geführt habe und ohnmächtig vor diesem Laden stand, der mir über den Kopf gewachsen war; Wenn ich nicht wusste, was ich zur Hölle tun kann, damit es so ist, wie ich es mir halbwegs wünsche. Ich wollte nicht Chef sein. Ich habe die Leute sich selbst überlassen, war ein Laissez-faire-Chef. Das ist schrecklich, es muss Führung geben und wenn die nicht von mir ausgeübt wird, wird sie von jemand anderem ausgeübt. Und weil ich ja etwas erreichen will mit dem Verein, muss ich das halt annehmen. With great power comes great responsibility. Und das brauche ich, mir selber zuzutrauen, dass ich das annehmen darf. Man kann nur die Führung abgeben, die man vorher innehatte. Wir haben mehrere Leute „verbrannt“, die der Puffer waren zwischen meiner nicht ausgeübten Führung und der Führung die verlangt wurde, von der Gruppe. Und das ist ungerecht.
GfK hat ganz viel gebracht, mit euch, weil es dem Team Sicherheit gegeben hat und einen Einblick in die Denke, die mich schon seit Jahren fasziniert.
Also zum Beispiel, dass man keine Angst haben muss vor einem Chef; dass Hierarchie nichts Schlimmes ist, sondern dass es sie einfach immer gibt; dass man in Hierarchien auch eine Chance sehen kann. Das hat viel geholfen. Außerdem Wertschätzung und miteinander ins Gespräch kommen.

Was mir viel gebracht hat, war meine Wut zu entdecken. Und das war’s was mir gefehlt hat. Wut ist ein tolles Gefühl. Das sagt einem ja, wann Grenzen überschritten sind, was man eigentlich will und nicht will. Wir lernen nur in unserer Kultur die Wut wegzudrücken, weil es ja ein sogenanntes böses Gefühl ist. Das geht aber nicht. Wut ist ein wichtiger Wirkmechanismus des Körpers. Seit ich das  gecheckt habe, werde ich viel häufiger wütend. Das heißt nicht, dass ich aggressiv werde, sondern es heißt, dass ich Konflikte anspreche, weil es mir plötzlich wichtig ist, Dinge zu klären. Das sorgt für ganz viel Klarheit bei mir selber.

 Jetzt wissen die anderen mehr, woran sie bei mir sind und plötzlich flutscht es. Das ist aber nicht sofort passiert, das ist erst nach einem viertägigen Seminar und einem sechswöchigem Sommerurlaub passiert, wo ich endlich meinen Kopf frei hatte um das, was ich gelernt hatte, auch anwenden zu können. Und seitdem fühle ich mich sicher. Also: seid wütend!

 

Welche Probleme sind dir beim Thema Führen begegnet? Und wie hast du sie gelöst?

Sich zeigen ist schwierig, weil du ja als Führender in der Regel weder Lob noch Mitgefühl bekommst. Du bist eher der Meckermülleimer von allen. Als Mensch gesehen zu werden und sich mit dem was einen wirklich bewegt in Kontakt zu bringen, ist schwierig. Nicht zuletzt ist uns das aber zum Beispiel mit euch gelungen, weil wir uns dafür Zeit und Raum genommen haben. Und plötzlich wird man als Führender wieder mehr als Mensch gesehen. Das macht es mir leichter gut in Führung zu gehen.

Wenn man sich wie ein Leistungsträger fühlt, wird man ja auch hart zu sich selbst. Man glaubt seiner selbst geschaffenen Identität, dass man alles schon durchkriegt. Man schafft es ja auch immer irgendwie, aber zahlt einen zu hohen Preis. Sich die Menschlichkeit bewahren und nicht nur in den Märtyermodus zu gehen, das finde ich eine Hürde.

 

Was war der Grund für euch, neue Wege von Führen und Folgen auszuprobieren?
Ein Grund war unsere frühere Kultur. Wir wollten bloß niemanden etwas aufdrücken oder befehlen. Entsprechend solche Leute haben sich eben auch bei uns beworben. Böse gesagt, hatte das so ein bisschen was renitent Pubertäres. So nach dem Motto: „Ich muss hier gar nichts!“ Kulturell ging es für uns nicht, dass wir jetzt einfach das gleiche machen, wie die da draußen, in der Arbeitswelt. Für unsere Identität als Organisation war es wichtig, dass wir etwas anders machen.
Außerdem gab es einen Mangel an Alternativen. Damals war ich als Gründer noch mit einer anderen Person, die mich eng beraten hat. Wir hatten eine abstrakte, riesige, völlig überzogene Vision, was das hier sein könnte. Wir hatten aber überhaupt keine Skills: keine Menschenskills um Vertrauen aufzubauen, um Anweisungen zu geben, keine Geduld, um Erwartungen zu formulieren und keine Vorerfahrungen in anderen Jobs. Es gab, kurzum, überhaupt keine Führungskompetenz bei uns. Das einzige, was wir konnten, war inspirieren. Das hat eine Weile gut geklappt, weil die Idee so gut ist. Die Idee hat unsere mangelnde Führungskompetenz erst mal verdeckt, aber nicht behoben. Das hat sich immer wieder gezeigt. Dieser Prozess war unfassbar anstrengend und ineffizient, aber den hat es eben gebraucht. Es war nicht möglich, das schneller zu machen. Ich war also sicher nicht der ideale Gründer, aber es hat eben auch kein anderer unser Projekt gemacht. Deswegen mussten wir da durch.

 

Was würdest du jetzt anders machen?

Ich würde nichts anders machen, ich hätte nichts anders machen können. Würde ich nochmal mit meinem jüngeren Ich sprechen, dann würde ich sein Bewusstsein dafür schärfen, dass ein großer Teil der Arbeit Management, Führung und das Zwischenmenschliche ist. Leute haben mir zwar immer wieder gesagt, dass es geiler ist, wenn du andere Leute dazu bringen kannst, das zu tun, was du glaubt, was richtig ist, anstatt dass du es selber machst. Aber: um das wirklich machen zu können, musst du dir vertrauen, damit du den anderen vertrauen kannst. Ich glaube ich würde mir einfach gut zusprechen und sagen: „Glaub an dich.“

 

Wo siehst Du aktuell die größten Herausforderungen, wenn es um die Frage nach New Leadership, New Work, flache Hierarchien geht im Bezug auf Führung?
Wenn es nur die Aufwertung von einem bescheuerten Job ist, finde ich es Augenwischerei. Oft ist New Work ein positiver Anstrich für Arbeitsverhältnisse, die dafür sorgen sollen, dass Menschen sich mit ihrem kompletten, auch psychologischen Kapital, ihren psychologischen Ressourcen und als Privatpersonen einbringen, um sie so ganzheitlicher ausbeuten zu können.
Diese totale Immersion, dieses eins werden zwischen öffentlichem und privatem, zwischen Freundschaft und Kollegentum, das finde ich persönlich etwas total Schönes, weil diese Trennung zwischen öffentlich und privat ist ohnehin künstlich und auch erst durch den Kapitalismus entstanden. Aber New Work wird ja meist nur benutzt, um innerhalb des Kapitalismus mehr Gewinn zu erwirtschaften.  Das birgt die Gefahr, dass den Mitarbeiter*innen eine Sicherheit vorgegaukelt wird, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Ohne eine grundsätzliche Sicherheit, wie sie zum Beispiel durch ein garantiertes Grundeinkommen für alle gewährleistet wäre, könnte immersives neues Arbeiten durchaus dystopische Züge bekommen.